Videospiele sind in den letzten Jahren zu einer der beliebtesten Freizeitaktivitäten geworden. Laut einer Studie spielen in Deutschland rund 34 Millionen Menschen regelmäßig Videospiele. Besonders bei Jugendlichen sind Videospiele sehr verbreitet, über 90 % der Jugendlichen spielen mindestens gelegentlich.
Allerdings gibt es auch zunehmend Bedenken, dass exzessives Spielen negative Folgen haben könnte. Insbesondere gewalthaltige Videospiele stehen hierbei in der Kritik. Es wird befürchtet, dass sie zu erhöhter Aggressivität und verminderten prosozialen Verhaltensweisen führen könnten. Aus diesem Grund wurde kürzlich die “Gaming-Störung” als eine Verhaltenssucht in die ICD-11, die Klassifikation psychischer Störungen der WHO, aufgenommen.
Videospiele scheinen aber nicht nur das Verhalten, sondern auch die Kognition zu beeinflussen. So konnten Verbesserungen in räumlicher Kognition und Aufmerksamkeit, aber auch Veränderungen in Gehirnstrukturen und Konnektivität nachgewiesen werden.
Ein wichtiger kognitiver Bereich ist die soziale Kognition. Darunter versteht man die Fähigkeit, das Verhalten anderer Menschen wahrzunehmen, zu interpretieren und angemessen darauf zu reagieren. Dies ermöglicht erfolgreiche soziale Interaktionen. Zu den Teilbereichen sozialer Kognition zählen beispielsweise Emotionserkennung, Empathie und Theory of Mind.
Ob und wie sich exzessives Videospielen auf die soziale Kognition auswirkt, ist bisher nicht abschließend geklärt. Das vorliegende systematische Review fasst den aktuellen Stand der Forschung dazu zusammen.
Methodik
Die Autoren durchsuchten die Datenbanken PubMed, PsycINFO und Web of Science systematisch nach relevanten Artikeln. Die verwendeten Suchbegriffe bezogen sich zum einen auf Videospiele und Games im Allgemeinen, zum anderen auf verschiedene Konzepte der sozialen Kognition wie Emotionserkennung, Empathie, Theory of Mind und moralische Kompetenz.
Es wurden nur experimentelle Studien eingeschlossen, die mindestens einmalige Videospiel-Exposition untersuchten oder den Zusammenhang zwischen Videospielkonsum und sozialer Kognition analysierten. Zudem mussten neuropsychologische Testverfahren verwendet worden sein, da Selbstauskünfte durch Verzerrungen beeinträchtigt sein können. Insgesamt konnten 39 Artikel identifiziert werden, die diesen Kriterien entsprachen.
Ergebnisse
Im Folgenden werden die Befunde der Review zu den einzelnen Facetten sozialer Kognition zusammengefasst.
Emotionserkennung
Mehrere experimentelle Studien zeigten, dass exzessives Videospielen zu Veränderungen in der zerebralen Verarbeitung von emotionalen Gesichtsausdrücken führt. Mittels Elektroenzephalografie (EEG) wurde gezeigt, dass intensives Spielen die unbewusste Wahrnehmung von Emotionen wie Freude verändert. Event-related potentials waren bei häufigen Spielern von gewalthaltigen Games beispielsweise reduziert.
Was die bewusste Erkennung von Emotionen angeht, sind die Ergebnisse uneinheitlich. Einige Studien fanden bei intensiven Spielern spezifische Defizite in der Identifikation negativer Emotionen wie Ärger oder Traurigkeit. Andere Untersuchungen konnten hingegen keine Beeinträchtigung der Emotionserkennung feststellen.
Bei Abhängigen zeigten sich Hinweise auf eine verminderte soziale Wahrnehmung vergleichbar mit Patienten mit Methamphetamin-Abhängigkeit. Zudem korrelierte eine höhere Symptomschwere mit schlechterer Leistung in einem Test zur Emotionserkennung.
Insgesamt legen die bisherigen Befunde nahe, dass exzessiver Videospielkonsum mit Veränderungen in der zerebralen Verarbeitung emotionaler Gesichter einhergeht. Die Ergebnisse zur bewussten Emotionserkennung sind allerdings nicht eindeutig und erfordern weitere Untersuchungen an unterschiedlichen Populationen.
Empathie
Zur Empathiefähigkeit liegen nur wenige Studien vor. Mittels funktioneller Magnetresonanztomografie (fMRT) wurde kein Einfluss von Videospielen auf die Empathie für Schmerz gefunden – weder bei gewalthaltigen noch bei neutralen Games. Auch die Auswertung von Selbstberichten ergab bei intensiven Spielern keine Anzeichen verminderter Empathie.
Allerdings untersuchte bislang keine Studie gezielt die affektive und kognitive Komponente der Empathie. Es bleibt also unklar, ob möglicherweise nur bestimmte Teilleistungen betroffen sind. Zudem liegen noch keine Daten zu dieser sozialen Fähigkeit bei abhängigen Spielern vor. Weitere Forschung ist nötig, um die Empathie von Videospielern umfassender beurteilen zu können.
Theory of Mind
Zur Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen und deren Absichten und Gefühle zu erkennen (Theory of Mind), liegen uneinheitliche Befunde vor.
Bei Kindern und Jugendlichen deuteten mehrere Studien mittels Geschichten und Bildern auf einen Zusammenhang zwischen intensivem Spielen von gewalthaltigen Videospielen und einer erhöhten feindseligen Attributionsverzerrung hin. Es wurde also situativ eine höhere aggressive Absicht unterstellt.
Bei Erwachsenen war das Ergebnis differenzierter: Während eine Studie ebenfalls einen solchen Effekt zeigte, konnten andere Untersuchungen keinen Einfluss von ego-shootern oder anderen gewalthaltigen Games auf Theory of Mind feststellen.
Möglicherweise sind jüngere Videospieler durch die noch nicht abgeschlossene Hirnentwicklung anfälliger für die Übernahme aggressiver Kognitionen aus den Spielen. Längsschnittstudien wären hier aufschlussreich.
Soziale Entscheidungsfindung
Zur sozialen Entscheidungsfindung liegen nur wenige Daten vor. Eine Studie mit Dilemma-Aufgaben ergab, dass erfahrene Videospieler weniger kooperativ waren als unerfahrene Spieler.
Bei Abhängigen zeigte sich im Chicken Game, bei dem Nicht-Kooperation risikoreich ist, eine geringere Kooperationsbereitschaft als bei Gelegenheitsspielern. Interessanterweise behandelten die Abhängigen Spielpartner, die sie gerade kennengelernt hatten, ähnlich kooperativ wie enge Freunde – im Gegensatz zu den Kontrollpersonen. Dies könnte auf eine veränderte soziale Distanzwahrnehmung hindeuten.
Insgesamt weisen die bisherigen Studien darauf hin, dass intensiver Videospielkonsum mit verringerter Kooperation in sozialen Dilemmata assoziiert ist. Bei Onlinespielern scheint die Grenze zwischen fremd und vertraut verschwommen zu sein. Weitere Untersuchungen sind jedoch nötig.
Aggressives Verhalten
Zur Aggression liegen relativ viele Studien vor, die sich auf selbstberichtetes Verhalten oder experimentelle Paradigmen wie den Wettbewerbsreaktionszeittest stützten.
Hier zeigt sich kein konsistentes Bild: Eine Reihe von Studien, darunter auch solche mit longitudinalem Design, fand keinen Zusammenhang zwischen Videospielkonsum und aggressivem Verhalten.
Demgegenüber deuten andere experimentelle Untersuchungen darauf hin, dass das Spielen von gewalthaltigen Videospielen situativ zu mehr Aggression führen kann, insbesondere bei Personen, die diese Spiele regelmäßig nutzen. Allerdings sind auch diese Befunde nicht eindeutig.
Problematisch ist zudem, dass gänzlich ungeklärt ist, wie sich eine manifeste Videospielabhängigkeit auf dieses Verhaltensfacet auswirkt. Hier besteht dringender Forschungsbedarf.
Moralische Kompetenz
Bislang untersuchten nur zwei Studien die moralische Urteilsfähigkeit von Videospielern. Interessanterweise zeigte sich, dass häufigeres Spielen mit einer höheren moralischen Kompetenz in Bezug auf Videospiel-Dilemmata einherging.
Allerdings ist unbekannt, ob dieser Effekt auch bezüglich realer moralischer Probleme besteht. Ebenso fehlen Untersuchungen zu diesem Aspekt bei abhängigen Spielern. Zukünftige Forschung sollte diese Lücken adressieren.
Diskussion
Die systematische Übersichtsarbeit zeigt, dass die Auswirkungen von Videospielkonsum auf die soziale Kognition ein wichtiges und zunehmendes Forschungsfeld darstellen. Allerdings ist die Studienlage derzeit noch recht uneinheitlich, so dass keine definitiven Schlussfolgerungen gezogen werden können.
Am ehesten scheint exzessives Videospielen mit Veränderungen in der zerebralen Verarbeitung emotionaler Reize assoziiert zu sein. Bezüglich bewusster Fähigkeiten wie Emotionserkennung oder Empathie gibt es bisher keine Belege für eindeutige Defizite. Allerdings deuten manche Befunde auf subtilere Effekte hin, wie eine erhöhte feindselige Attributionsneigung durch gewalthaltige Spiele. Dies könnte zu situativ erhöhter Aggression beitragen.
Eine große Limitation vieler Studien ist die Fokussierung auf einzelne Aspekte sozialer Kognition, während das Zusammenspiel unterschiedlicher Facetten unbeachtet bleibt. Zudem gibt es keine einheitliche Definition von problematischem bzw. süchtigem Spielverhalten. Häufig wird nicht zwischen Gelegenheitsspielern und Abhängigen differenziert.
Um kausale Schlussfolgerungen ziehen zu können, sind weitere experimentelle Untersuchungen und v.a. prospektive Längsschnittstudien erforderlich. Dabei sollten multiple Komponenten sozialer Kognition in unterschiedlichen Altersgruppen einbezogen werden.
Fazit
Die Ergebnisse könnten dazu beitragen, gezielte Interventionen und Therapien für pathologische Videospielnutzer zu entwickeln. Je nach betroffener Teilleistung ließe sich die soziale Kognition dann trainingsspezifisch verbessern. Darüber hinaus kann das Wissen helfen, Risikogruppen für eine Abhängigkeitsentwicklung frühzeitig zu identifizieren.
So liefert diese Übersichtsarbeit trotz vieler offener Fragen wichtige Anhaltspunkte für ein besseres Verständnis der Zusammenhänge zwischen Videospielkonsum und sozialer Kognition. Die weitere Erforschung dieses dynamischen Feldes ist vielversprechend und sollte differenziert zwischen verschiedenen Nutzungsmustern sowie Altersgruppen vorgehen.
Literatur:
Hurel, E., Grall-Bronnec, M., Bouillard, O. et al. (2023): Systematic Review of Gaming and Neuropsychological Assessment of Social Cognition. Neuropsychol Rev. https://doi.org/10.1007/s11065-023-09599-y