Laut dem Soziologen Dirk Baecker ist der Bürger eine „Einmalerfindung der menschlichen Gesellschaft“. Sein Name und seine historische Ausprägung mögen sich im Lauf der Geschichte geändert haben, seine grundlegende Funktion blieb jedoch erhalten.
Baecker definiert den Bürger anhand der Philosophie Hegels als ein Individuum, das seine Selbstständigkeit im Verhältnis zu einer Familie und einem Staat erwirbt und behauptet. In der bürgerlichen Gesellschaft verfolgt das Individuum aus Eigennutz seine Interessen. Entscheidend ist, dass Familie und Staat dabei nicht einfach Rahmenbedingungen sind, sondern ebenfalls als selbstständige Einheiten anerkannt werden.
„Bürger ist, wer seine Individualität einer Familie und einem Staat verdankt, die ihr beide widersprechen und sie doch beide, als Naturzustand und als Gesetz, garantieren“, so Baecker. Die Figur des Bürgers ist damit hochpolitisch – sie setzt die Selbstständigkeit von Individuum, Familie und Staat voraus und bringt diese in ein spannungsreiches Verhältnis.
Vom Bürger 1.0 zum Bürger 4.0: Anpassung an Medienepochen
Um die Anpassungsfähigkeit des Bürger-Konzepts über verschiedene Medienepochen hinweg aufzuzeigen, unterscheidet Baecker zwischen vier Typen des Bürgers:
- Bürger 1.0 (steinzeitliche orale Gesellschaften)
- Bürger 2.0 (Hochkulturen mit Schrift)
- Bürger 3.0 (moderne Buchdruckgesellschaft)
- Bürger 4.0 (Gesellschaft elektronischer Medien)
Die Medienepochen werden dabei über die mit ihnen jeweils neu auftretenden Kommunikationsprobleme charakterisiert:
- Bürger 1.0: Referenzproblem der Sprache
- Bürger 2.0: Symbolüberschuss der Schrift
- Bürger 3.0: Kritiküberschuss des Buchdrucks
- Bürger 4.0: Kontrollverlust durch elektronische Medien
Vier Spielarten des Bürgers
Bürger 1.0: Steinzeitlicher Bürger der Affinität
In der tribalen Gesellschaft konnte der Einzelne über das Prinzip der „Affinität“, der Verbindung mit Nicht-Verwandten, einen Spielraum individueller Selbstständigkeit finden. Er war ein „Raubtier“ zwischen Verwandtschaft und Feindschaft, das den Ritus auf seiner Seite wusste.
Bürger 2.0: Antiker Bürger der Selbstbeherrschung
In der antiken Hauswirtschaft galt die „Sophrosyne“, die Selbstbeherrschung von Bedürfnissen durch ihren Aufschub. Der Hausherr musste Verzicht üben, um künftige Erträge zu steigern. Er lernte, zwischen Gegenwart und Zukunft abzuwägen.
Bürger 3.0: Moderner Bürger der Urteilskraft
Der moderne Bürger zeichnet sich durch seine Urteilskraft in einer dynamischen, durch Kritik und Krise gekennzeichneten Gesellschaft aus. Er bewegt sich raubtierhaft und selbstbeherrscht zwischen Politik, Wirtschaft, Recht, Religion und Kultur.
Bürger 4.0: Erregter Bürger des Netzwerks
In der vernetzten Mediengesellschaft versucht der Bürger 4.0 über emotionale Erregungszustände, seine Selbstständigkeit zu behaupten. Sein Verhalten gleicht einem Ungewissheitskalkül, mit dem er seine Position in Netzwerken variieren kann.
Eine Herausforderung für die Politik besteht darin, den erregten Bürger 4.0 wieder zur politischen Kante zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Sphären zu machen.
Fazit: Beständigkeit einer gesellschaftlichen Figur
Abschließend betont Baecker den strukturellen Charakter des Bürger-Konzepts, das mit einer bestimmten Art der Gestaltung sozialer Verhältnisse verbunden ist. Die Einheit der Differenz zwischen Individuum, Familie und Staat bleibt bestehen, auch wenn sich die Gesellschaft und ihre Medien fundamental wandeln. Damit erweist sich der Bürger als erstaunlich anpassungsfähige „Einmalerfindung der menschlichen Gesellschaft“.
Literatur: